Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus

TEXT: BUNDESTAG.DE / EIS/27.01.2023

Bundes-, Landes- und Kreisvorstandsmitglieder der LSU bei der Gedenkstunde im Deutschen BundestagBundes-, Landes- und Kreisvorstandsmitglieder der LSU bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag

Mit dem Wunsch, dass keine Form von Diskriminierung als normal empfunden werden darf, hat Rozette Kats in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus ein eindringliches Plädoyer für Toleranz gehalten. „Ich habe nicht vergessen, wie schlimm es ist, sich verleugnen und verstecken zu müssen“, sagte die niederländische Tochter von Holocaust-Opfern am Freitag, 27. Januar 2023. Doch darauf gebe es nur eine Antwort: „Jeder Mensch, der damals verfolgt wurde, verdient achtungsvolle Erinnerung. Jeder Mensch, der heute verfolgt wird, hat Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Schutz!“ Kats wünschte sich „für unsere Kinder“, dass jede Form von Diskriminierung nicht als normal, sondern als „schreckliche“ Abweichung empfunden werde, die es zu überwinden gelte.

Ein Doppelleben in Angst

Kats war im Alter von acht Monaten im Februar 1943 von ihren Eltern an ein niederländisches Ehepaar gegeben worden. „Meine Mutter war zu der Zeit schwanger mit meinem kleinen Bruder. Er kam dann im Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden zur Welt“, erzählte sie. Von da aus seien ihre Eltern und ihr kleiner Bruder zusammen mit Hunderten anderen jüdischen Kindern, Frauen und Männern in einem überfüllten Viehtransport-Zug nach Auschwitz deportiert worden. Kurz nach ihrer Ankunft wurden die meisten in Gaskammern umgebracht. „Auch meine Mutter und mein Babybruder. Mein Vater musste noch vier Monate Schwerstarbeit leisten, bevor auch er ermordet wurde.“

Kats wuchs zu ihrem Schutz nicht mit ihrem Vornamen Rozette auf, sondern unter dem Namen Rita. Kurz vor ihrem sechsten Geburtstag habe ihr Pflegevater ihr erklärt, dass ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden, weil sie Juden waren. „Ich verstand nicht, was meinen Eltern geschehen war. Ich verstand nicht, warum jemand sie hatte ermorden wollen.“ Übrig blieb ein Gefühl der „Angst“. Unbewusst habe sie damals beschlossen, sich gut anzupassen. „Ich muss nur weiter die Maske des nicht-jüdischen Kindes tragen“, erzählte Kats. Dieses „Nicht-Wissen-Wollen“ und „Verschweigen“ habe mehr als ihr halbes Leben angedauert. „Ich führte ein Doppelleben. Und dieses Doppelleben machte mich krank.“

Viele Jahre später im Jahr 1992 sei in Amsterdam eine Konferenz für während des Kriegs versteckte jüdische Kinder ausgerichtet worden. Damals habe sie endlich Menschen getroffen, die Ähnliches erlebt hatten. „Das war meine Befreiung: Ein Coming-out aus meinem Versteck. Ich war nicht mehr die Einzige!“, sagte Kats. Seitdem habe sich ihr Leben verändert.

Kats: Es ist falsch, Menschen in Kategorien einzuteilen

Die Erfahrungen, die sie als kleines Kind gemacht habe, erlebten vor und nach 1945 auch viele Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität. „Denn es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen“, sagte Kats. Das Versprechen „Nie wieder!“ habe längst nicht alle Opfergruppen der Nationalsozialisten gemeint. Sehr spät sei erst verstanden worden, dass zum Beispiel der Haftgrund „asozial“ eine Nazi-Definition war, die auch zur Verurteilung lesbischer Frauen missbraucht worden sei.

So habe es bei verschiedenen Opfergruppen lange Zeit Vorbehalte gegeneinander gegeben. Bei mancher Gedenkveranstaltung habe noch vor wenigen Jahrzehnten gegolten, dass nicht an homosexuelle Männer erinnert werden sollte. Aber es sei falsch, Menschen in Kategorien von mehr oder weniger „wertvoll“ einzuteilen, wenn bestimmte Opfergruppen gar als weniger „wertvoll“ als andere angesehen würden. Das bedeute am Ende, „dass die nationalsozialistische Ideologie weiterlebt“.

Schirdewahn: Bestraft aufgrund der Liebe zu einem Mann

Über den Kampf gegen dieses Erbe berichtete Klaus Schirdewahn. Dass er seine Rede vor dem Bundestag halten könne, sei nicht selbstverständlich: „Noch vor wenigen Jahren war ich tief in meinem Inneren so verunsichert, versteckte mich, schämte mich meiner Gefühle, war immer auf der Hut, nur ja nichts Falsches zu sagen, nur nichts von meinen Gefühlen zu erkennen zu geben.“

Weil er im Jahr 1964 als Siebzehnjähriger nach Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches wegen der Liebe zu einem anderen Mann schuldig gesprochen wurde, habe er bis vor fünf Jahren als vorbestraft gegolten. Dieser Paragraf sei im Jahr 1935 von den Nationalsozialisten verschärft worden und habe noch in der Bundesrepublik bis 1969 gegolten. Abgeschafft worden sei der Paragraf im Jahr 1994. Aufgehoben wurden die Schuldsprüche im Jahr 2017. „Auch der Schuldspruch gegen mich“, berichtete Schirdewahn.

Gift des NS-Menschen- und Familienbildes

Was während des Nationalsozialismus strafrechtlich gegolten habe, „galt für mich und viele andere noch bis 1969“. Damals habe sich die Gesellschaft langsam mit den zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen beschäftigt. „Aber ‚wir‘ waren mit ‚unserer‘ Lebensweise noch nicht willkommen. Zu sehr wirkte das Gift des nationalsozialistischen Menschen- und Familienbildes in Geist und Köpfen noch nach“, sagte Klaus Schirdewahn. Das „Wir“ seien nicht nur schwule Männer, sondern auch lesbische Frauen, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Personen gewesen. „Für uns alle“ war „das Dritte Reich noch nicht zu Ende“, zitierte Schirdewahn den Historiker Hans-Joachim Schoeps.

Die einzige Möglichkeit, im Jahr 1964 eine Freiheitsstrafe abzuwenden, sei für Schirdewahn gewesen, eine Therapie zu beginnen, die ihn von seiner Homosexualität „heilen“ sollte. Diese Therapie habe ihm seine Gefühle, seine Lebensweise, seine Identität, sein Wesen abgesprochen und ein Doppelleben aufgezwungen. „Ich versuchte, nirgendwo anzuecken, es allen recht zu machen.“

„Die Gedenkstunde gibt den Betroffenen Würde zurück“

Doch seine Gefühle ließen sich nicht abstellen oder unterdrücken. „In meinem Inneren bewahrte ich mir den Rest eines Traumes von einem ‚freien und normalen‘ Leben.“ Durch die jahrelange Arbeit von Aktivisten und Vorbildern ermutigt, habe er sich schließlich entschlossen, sich als schwuler Mann öffentlich zu zeigen. „Dies war eine Befreiung, nach der ich zum ersten Mal das Gefühl hatte: Ich bin Ich!“

Schirdewahn zitierte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, der im Jahr 2018 gesagt habe: „Zu unserem Gedenken muss aber auch die Zeit nach 1945 gehören. […] Die Würde von Homosexuellen, sie blieb antastbar. Zu lange hat es gedauert, bis auch ihre Würde etwas gezählt hat in Deutschland.“ Aus diesem Grund sei die Gedenkstunde wichtig. „Denn sie drückt Trauer über das Leiden aus, das queeren Menschen im Nationalsozialismus angetan wurde. Sie macht aber auch das Unrecht, das 1945 eben nicht endete, sichtbar und gibt den Betroffenen deswegen etwas von ihrer Würde zurück“, so Schirdewahn.

Bas: Die Geschichten aller Verfolgten erzählen

Die Notwendigkeit, jener Menschen zu gedenken, die wegen ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verfolgt wurden, betonte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu Beginn zur Gedenkstunde. „Teil unseres Gedenkens ist, dass Überlebende hier im Parlament ihre Stimme erheben und uns von ihrem Leben und Leiden berichten“, sagte sie. „Die letzten Überlebenden dieser Opfergruppe sind verstorben, ohne dass wir sie gehört haben.“

Ihre Geschichten müssten nun andere erzählen. Denn noch immer sei zu wenig über das Schicksal einzelner sexueller Minderheiten bekannt. Die Nationalsozialisten hätten lesbische Frauen und transsexuelle Menschen unter Vorwänden verfolgt, etwa als sogenannte „Asoziale“. Durch deren Kriminalisierung seien sie unsichtbar gemacht worden. „Für unsere Erinnerungskultur ist es wichtig, dass wir die Geschichten aller Verfolgten erzählen“, sagte Bas.

Weil nun immer weniger Zeitzeugen ihre Geschichten erzählen könnten, „müssen wir uns ihr Leid auf andere Weise vergegenwärtigen“ und neue Wege beschreiten. „Wir brauchen diese lebendige Erinnerungskultur“, forderte die Bundestagspräsidentin. Denn viele Menschen würden glauben, Deutschland habe sich mehr als genug mit der Shoah beschäftigt. „Das ist ein Irrtum. Es kann keinen Schlussstrich geben! Es ist gefährlich zu glauben, wir hätten ‚ausgelernt‘“, sagte Bärbel Bas. Noch immer gebe es offene und schmerzhafte Fragen.

„Engagieren wir uns für Toleranz und Vielfalt“

Die Bundestagspräsidentin äußerte sich in ihrer Rede beunruhigt über Versuche, die Einzigartigkeit des Holocausts zu relativieren. „Das müssen wir entschieden zurückweisen.“ Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nähmen wieder zu. Fünf antisemitische Straftaten würden im Schnitt jeden Tag in Deutschland registriert. „Das ist eine Schande für unser Land.“

Bas forderte: „Wir alle müssen bei antisemitischen Vorfällen Zivilcourage beweisen.“ Niemand dürfe weggucken. Dies gelte auch bei der Diskriminierung queerer Menschen. Eine freiheitliche, offene Gesellschaft sei keine Selbstverständlichkeit. „Engagieren wir uns für Toleranz und Vielfalt“, sagte Bas. „Für eine Gesellschaft, in der die Würde aller Menschen tatsächlich unantastbar ist.“

Begleitung der Gedenkstunde

Begleitet wurden Reden durch Lesungen des Schauspielers Jannik Schümann über Karl Gorath (1912-2003), der als schwuler Mann die nationalsozialistische Gewaltherrschaft überlebte, und der Schauspielerin Maren Kroymann, die die Biografie der lesbischen Jüdin Mary Pünjer (1904-1942) vortrug. Unter dem Vorwand der „Asozialität“ war die in einer Hamburger Kaufmannsfamilie geborene, verheiratete Frau im Jahr 1940 als „Lesbierin“ verhaftet worden. Nach ihrer Verurteilung wurde sie im Konzentrationslager Ravensbrück interniert, wo sie 1942 für die Mordaktion „Aktion 14f13“ selektiert und im Frühjahr desselben Jahres in der „Euthanasie“-Anstalt Bernburg an der Saale ermordet wurde.

Zwischen den Lesungen trug Sängerin Georgette Dee „Von der Freundlichkeit der Welt“ (1927) von Bertolt Brecht (1898 bis 1956) in einer bearbeiteten Fassung vor, musikalisch ergänzt durch einen Ausschnitt aus den drei Elegien von Bertolt Brecht und Hanns Eisler (1898 bis 1962) durch Tobias Bartholmeß. Die Gedenkstunde fand einen Ausklang mit dem Stück „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ (1931) von Friedrich Hollaender (1896 bis 1976), ebenfalls vorgetragen von Georgette Dee und durch Tobias Bartholmeß begleitet.